Standpunkt: André Lützen

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Loch im Kopf

Der in Hamburg lebende Photograph André Lützen (*1963, Hamburg) arbeitet in Serien. Seine Photoessays sind durch Vor- und Rücksprünge gekennzeichnete bildnerische Sequenzen, die linear zu lesen sind und doch die Gleichzeitigkeit des Gesehenen im memorierenden Bewusstsein des Betrachters fordern.

Loch im Kopf ist ein Essay über den Verlust von Erinnerung. Szenen, die zeitlich und geografisch zusammengehören, brechen auseinander. Bilder von Personen, Orten und Situationen – das Dokument des Geschehenen – gehen aber nicht verloren. Sie verschieben sich im Gedächtnis und setzten sich neu zusammen.

Loch im Kopf kreist um das Problem der Identität, das Phänomen des Erinnerns und seine identitätskonstituierende Funktion rücken in das Zentrum des Interesses. In der mehr als 70 Einzelbilder umfassenden Serie wird die Frage aufgeworfen, in welchem Maß Erinnerung Gesetzmäßigkeiten des kognitiven Erkennens und des analytischen Denkens folgt oder in welchem Maß sie assoziativ geschieht; inwiefern sie Substrat eines gliedernden Denkens oder Produktion und damit Wiederholung von Kontingenz darstellt.

Indem André Lützen seine Bildersequenz weniger anhand inhaltlicher, sondern viel mehr anhand formaler Kriterien strukturiert, legt er das Schwergewicht eindeutig auf ein frei schweifendes Memorieren, das eher den Gesetzmäßigkeiten des prädikativen als denen des logisch-analytischen Denkens folgt. Orte und Begebenheiten, Personen und Stimmungen, die weder räumlich noch zeitlich miteinander in Verbindung stehen, werden in Relation zueinander gebracht. Trotz der streng linearen Anordnung der Einzelbilder entstehen Querverbindungen, die wiederum vom Betrachter eine memorierende, assoziativ-sprunghafte Rezeption erfordern.

Letztlich bleibt es dem Rezipienten überlassen, welche »Geschichte« er aus den Bildsequenzen herausliest. Ist es eine Geschichte der Tatsachen oder eine Geschichte der Sehnsüchte, der Träume und Vorstellungen? Identität geht auf in Möglichkeitsformen, in einer Unverbundenheit nicht nur bezüglich der aufeinanderfolgenden zeitlichen Geschehnisse, sondern auch in einer Unverbundenheit der synchron nebeneinander existierenden seelischen Ebenen, und ist doch an die leibliche Gegenwart gebunden. Der Titel »Loch im Kopf« erinnert an diese schmerzliche Leibgebundenheit jeder Erfahrung und jeder Form von Identität. Indem assoziativ Einzelbilder zu einer von vielen möglichen Geschichten zusammengefügt werden, erinnert André Lützens photographische Serie sowohl an die Vielfalt der möglichen Geschichten, der möglichen Erzählungen, der möglichen Perspektiven als auch an die Unhintergehbarkeit und Notwendigkeit der physischen Präsenz, an die Einmaligkeit und Einzigartigkeit jedes Einzelnen als Subjekt der Erfahrung.