Von schönen Frauen, Containerriesen und Monsterwellen
Mit der großen maritimen Sommerausstellung Seestücke. Von Max Beckmann bis Gerhard Richter knüpft die Hamburger Kunsthalle in diesem Jahr an die erfolgreiche erste Seestücke-Ausstellung an, die 2005 erstmals in der jüngeren Kunstgeschichte die lang missachtete „Maritime Malerei“ wieder in den Fokus der Öffentlichkeit rückte; zeigen sich Künstler doch seit jeher fasziniert von der Weite des Meeres, von seinen Geheimnissen und seinen Geschichten, von Schiffen, Häfen, Küsten, Stränden und schönen Frauen. Nun versammelt der zweite Teil auf 1.700 Quadratmetern ein beeindruckendes Spektrum an 167 Werken von 55 internationalen Künstlern mit den Schwerpunkten Klassische Moderne, Pop Art und zeitgenössische Kunst. Zu sehen sind neben berühmten Schlüsselwerken von Andy Warhol und Roy Lichtenstein noch nie oder selten gezeigte Werke wie Paul Klees „Flusslandschaft mit Dampfboot“, Otto Dix’ „Abschied von Hamburg“ sowie drei Arbeiten, die Anselm Kiefer eigens für die Ausstellung schuf.
„Wenn ich der Kaiser der Erde wäre, würde ich als mein höchstes Recht mir ausbitten, einen Monat im Jahr allein zu sein am Strand“, schreibt Max Beckmann 1915 an seine Frau Minna und drückt damit aus, was unzählige Künstler seit jeher vereint: Ihre Liebe zum Meer. Der außergewöhnlichen Bereitschaft von über 60 Privatleihgebern aus Europa und Übersee, sich für diese Ausstellung von ihren Bildern zu trennen, ist es zu verdanken, dass zahlreiche sorgfältig gehütete Kunstschätze der Öffentlichkeit zugänglich werden. So kann neben Paul Klees „Flusslandschaft mit Dampfboot“ auch sein zuletzt 1950 ausgestellter „Seegarten“ nun in der Hamburger Kunsthalle bewundert werden. Zu den weiteren Kostbarkeiten der Ausstellung zählen auch 15 Gemälde von Max Beckmann und weitere Werke von Paul Klee, Lyonel Feininger und Max Ernst.
Neben Warhols berühmten „Do it Yourself“-Segelbooten, einem der Schlüsselwerke der Pop Art, konnten auch mehrere zentrale Werkgruppen Roy Lichtensteins versammelt werden, darunter Rowlux-Arbeiten, ein Brush-stroke-Gemälde, die Lithographie „Shipboard Girl“ und fünf Filmarbeiten Lichtensteins von 1969/70, die in Europa noch nie gezeigt wurden. Richard Hamilton, der Urvater der englischen Pop Art, steuert aus seinem Privatbesitz die „Bathers II“ bei.
Anselm Kiefer, in dessen Oeuvre das Meer seit den späten 60er Jahren als zentrales Motiv fest verankert ist, zeigte sich so begeistert von dem Konzept der Ausstellung, dass er der Kunsthalle mehrere Arbeiten aus seinem Atelier in Südfrankreich anbot und darüber hinaus drei neue Werke exklusiv für die Ausstellung anfertigte. Das wohl herausragendste der insgesamt zehn Exponate ist die eigens für die Ausstellung geschaffene 2,5 Tonnen schwere Skulptur „Verunglückte Hoffnung“, mit der Kiefer auf Caspar David Friedrichs „Eismeer“ Bezug nimmt, das in der Literatur auch den Titel „Die verunglückte Hoffnung“ trägt.
Zu den Highlights der zeitgenössischen Beiträge zählt auch der Gerhard Richter-Raum, in dem zum ersten Mal eine umfangreiche Auswahl seiner faszinierenden Seestücke vereint ist. „Ich wollte es nur ein bisschen schö-ner machen, weil ich merkte, wie schwer es war, beides auf einmal zu erhalten, eine günstige Wasseroberfläche und einen schönen Himmel dazu“, äußerte sich Gerhard Richter 2002 über seine seit Ende der 60er Jahre entstandenen Gemälde, in denen er Himmel und Meer zu suggestiven Seelandschaften zusammenfügt. Robert Longo hingegen betont die zerstörerische Kraft des Meeres mit gigantischen Monsterwellen, die er kurz vor der Tsunami-Katastrophe 2004 in großformatigen Kohlezeichnungen festhielt. Der junge Hamburger Künstler
Till Gerhard, der neben Peter Doig und Daniel Richter zu den Protagonisten der neuen Malerei gehört und ebenfalls eigens für die Ausstellung ein neues Gemälde schuf, inszeniert das Meer in seinen Bildern als einen fremden, unheimlichen Ort, dessen Tiefe ungeahnte Geheimnisse und Bedrohungen birgt.
Unter den ausgewählten Photoarbeiten ragen neben den Werken von Elger Esser und Hiroshi Sugimoto beson-ders die Arbeiten von Sven Johne und dessen Vorbild Allan Sekula durch ihren politisch motivierten Blick heraus. Sven Johne, einer der zurzeit gefragtesten jungen Photokünstler, setzt sich kritisch mit den Bedingungen der modernen Seefahrt auseinander. Sekula beleuchtet mit der Kamera die Verschlechterung der Arbeitsbedin-gungen auf den Containerschiffen im Zuge der Globalisierung. „Das Meer ist der Schauplatz periodisch auftre-tender Schrecken“, so fasst er seine Sicht auf das Meer zusammen, „und außergewöhnlicher, aber kurzer Energie-einsätze, von den Dramen des täglichen Lebens meilenweit entfernt.“ (Allan Sekula, 2002, in Seemansgarn).
Mit Bruce Conner, Tacita Dean und Hans Scharbus ist auch die aktuelle Videokunst in der Seestücke-Ausstellung hochkarätig vertreten. Bruce Conners Filmarbeit (1976) über die Explosion der ersten Atombombe auf dem Bikini-Atoll hat an Aktualität nichts eingebüßt. Conner, der als einer der ersten Künstler Ende der 50er Jahre mit dem Medium Film experimentierte, rückt mit seinem verstörenden Film das Meer als militärische Kampf- und Versuchszone und seine Bedrohung als empfindlichen Teil unseres Ökosystems ins Visier. Der junge österreichische Künstler Hans Scharbus, den Max Hollein 2005 auf der Biennale in Venedig präsentierte, entdeckt das Seestück in der Wiener Kanalisation. Tacita Dean, die zurzeit mit einer großen Einzelausstellung im New Yorker Guggenheim Museum geehrt wird, fahndet in ihren Arbeiten nach Phänomenen und menschlichen Schicksalen, die sich auf See ereigneten, so auch in ihrem Video „How to put a boat in a bottle“ (1995).
Mit welchen Techniken, Medien und Mitteln sich die Künstler dem Thema Meer auch nähern, eines zeigt die Seestücke-Ausstellung sehr deutlich: Das Meer ist für sie alle ein zentrales Motiv des Lebens, der Sehnsucht, aber auch der Bedrohung, und immer ist es Ausgangspunkt der Reflektion ihrer Zeit. Das Sujet der von Kaiser Wilhelm II. und den Nationalsozialisten zu machtpolitischen Zwecken missbrauchten maritimen Malerei bietet weit mehr als Kitsch und Propaganda. Durch die Augen der Künstler des 20. und 21. Jahrhunderts betrachtet, spiegelt sich die ganze Bedeutungsgeschichte des Meeres: die Erfahrungen der beiden Weltkriege, die moderne Konsum- und Industriegesellschaft, das Meer als Verkehrszone und als bedrohtes Ökosystem, eine vollständige gewandelte Naturwahrnehmung und all dem zum Trotz auch die Sehnsucht nach dem großen Meer und der Hoffnung auf eine bessere Welt.