Die Hamburger Kunsthalle präsentiert ab dem 30. April 2016 die frühe bzw. überarbeitete Folge der Carceri (Kerker) von Giovanni Battista Piranesi (1720- 1778), die aufgrund ihrer großen künstlerischen Virtuosität zweifelsfrei zu den einflussreichsten Werken der Druckgraphik überhaupt zählt. Der venezianische Künstler veröffentlichte die vierzehnteilige Radierfolge erstmals 1749/50 in Rom. Das Werk fand zunächst kaum Beachtung. Knapp zehn Jahre später überarbeitete Piranesi sämtliche Blätter, wobei er die Szenen vor allem durch stärkere Hell-Dunkel-Kontraste ins Unheimliche und Bedrohliche veränderte. Diese 1761 erstmals erschienene und um zwei Darstellungen erweiterte zweite Ausgabe hat die Menschen seit mehr als 250 Jahren auf besondere Weise fasziniert. Zahlreiche bildende Künstler, Schriftsteller und Filmemacher ließen sich von ihr zu eigenen Schöpfungen anregen. Zudem sind in der Ausstellung eine der extrem seltenen Vorzeichnungen und mehrere thematisch ähnliche Entwurfsblätter zu sehen. Sämtliche Exponate stammen aus eigenem Besitz.
Die großformatigen Darstellungen der Carceri stellen verschiedene Innenansichten von ganz ungewöhnlichen Gefängnissen dar, denn trotz der erkennbaren Folterinstrumente, Gitter und Ketten entziehen sich die dargestellten Räume in vielerlei Hinsicht der gewohnten Seherfahrung. Charakteristisch ist vor allem die unlogische Kombination architektonischer Elemente. Mauern, Rampen, Treppen, Spiralen, Türme, Bögen, Gewölbe und Pfeiler sind auf eigentümliche Weise übereinander gestellt sowie ineinander verschachtelt, womit permanent physikalischen Gesetzen widersprochen wird. Piranesi verzerrt zudem Proportionen und durch die Verschiebung der Fluchtpunkte werden die räumlichen Grenzen aufgehoben. Diese Entwürfe sind auf dem Papier gebaute Visionen, die keinerlei Möglichkeit auf Realisierung haben. Insofern mag es überraschen, dass sich Piranesi auf dem Titelblatt der zweiten Ausgabe selbst als Architekten bezeichnet. Visualisiert werden diese Visionen mit einer stupenden Radiertechnik. Konträr zu der Mehrzahl zeitgenössischer Architekturansichten, ist Piranesis Strichführung extrem unruhig, geradezu vibrierend.
Die in jeder Hinsicht irritierenden Blätter der Carceri haben vielfältige Deutungen hervorgerufen. Man interpretierte sie als zu Architektur geronnene, alptraumhafte Angstzustände, als blasphemische Abkehr von der göttlichen Weltordnung oder etwa als Inbegriff labyrinthischer Schreckensvisionen. Unstrittig ist, dass diese Werke beim Betrachter zumeist das Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins hervorrufen. Als Ausdruck existentieller Bedrohung sind sie auch im 21. Jahrhundert von ungebrochener Aktualität.