Picasso, den der Stierkampf seit seiner Kindheit faszinierte, war ein leidenschaftlicher Besucher der Arena. »Eines Tages war ich so traurig, dass ich den Stierkampf verpassen musste, dass ich mir alle Stadien des Kampfes vorgestellt habe. Auf diese Weise bin ich mitten in die Tauromachie geraten …« erzählte er später über die Anfänge der hier gezeigten Folge.
Motive des Stiers und des Stierkampfes – ein traditionell spanisches Thema – ziehen sich durch Picassos gesamtes Werk. Einen besonderen Platz nehmen die Szenen in seinem graphischen Werk ein. Die 1957 entstandene Folge La Tauromaquia lässt wie ein Bilderbogen das Geschehen in der tosenden Arena an uns vorbeiziehen. Die Folge von 26 Aquatinta-Radierungen entstand als Illustration zum ersten Lehrbuch der Stierkampfkunst, La Tauromaquia, o arte de torear, ein Buch aus dem Jahre 1796, dessen Autor einer der bekanntesten Stierkämpfer seiner Zeit war, der Torero José Delgado y Galvez, genannt Pepe Illo.
Als der Verleger Gustavo Gili aus Barcelona 1955 eine Neuauflage des Buches plante, beauftragte er Pablo Picasso mit den Illustrationen, und Picasso war begeistert von diesem Projekt. Er setzte sich im April 1957 an die Arbeit – vier Tage nachdem er in der Arena des südfranzösischen Städtchens Arles einen Stierkampf gesehen hatte. Innerhalb von drei Stunden soll Picasso die 28 Kupferplatten vollendet haben, 26 davon wurden schließlich gedruckt. Picasso orientierte sich nicht an den zu illustrierenden Textteilen, sondern wählte seine Motive frei.
Die skizzenhaften Schwarz-Weiß-Arbeiten geben den gesamten Ablauf eines Stierkampfs wieder, sie setzen sogar davor ein, wenn die friedlich weidenden Tiere und der Einzug der Schaulustigen in die Arena geschildert werden. Dort spannt sich dann der Bogen des Geschehens: vom festlichen Einzug der Toreros über das Reizen des Stiers mit den unterschiedlichsten Figuren, den Angriff des wilden Tiers und die kunstvollen Manöver diesem zu wiederstehen, bis hin zum Todesstoß und dem Triumph des Matadors. Mit sparsamen, präzisen Pinselstrichen gelingt es Picasso, dem Betrachter jeden Moment dieses kultischen Vergnügens zu vermitteln, das gleichermaßen archaisch brutal wie von größter Eleganz und tänzerischer Raffinesse ist.
In den Illustrationen zu Pepe Illos La Tauromaquia erreicht das Thema des Stierkampfes einen Höhepunkt in Picassos graphischem Werk. Picasso hat nach jahrelanger Auseinandersetzung mit dem Thema in den Blättern sein Wissen über die Stierkampfkunst vereinigt. Zugleich knüpft er an ein große Vorbild an: Sein Landsmann, der von ihm hochgeschätzte Maler Francisco de Goya, hatte sich bereits 1815 von der gleichen literarischen Vorlage zu seiner Tauromaquia inspirieren lassen, und in einer Folge von 33 Radierungen die Geschichte des Stierkampfes und den erbitterten Kampf zwischen Mensch und Tier dargestellt. Mit treffsicherem Strich gibt der siebzigjährige Goya die Intensität von Bewegung, Licht und Schatten und die emotionsgeladene Atmosphäre in der Arena wieder. Die Hamburger Kunsthalle hat diese Folge Goyas bereits im Sommer 2003 im Hegewisch-Kabinett ausgestellt, doch sollen drei Blätter das große Vorbild noch einmal in Erinnerung rufen. Glanzvoll isoliert trifft hier der einzelne Mensch auf die machtvolle Kreatur. Das zuschauende Volk unterdessen wird ganz an den Rand gedrängt – ein Kompositionsprinzip, das Picasso in seiner Folge aufnahm.