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Jean Dubuffet. Er hat die Sandalen ausgezogen

Der französische Maler Jean Dubuffet strebte einen radikalen Bruch mit der französischen akademischen Tradition und mit der westlichen Hochkunst insgesamt an. Stattdessen interessierte sich Dubuffet für, wie er es nannte, »anti-kulturelle« Äußerungen, wie etwa für das bildnerische Schaffen von Geisteskranken, Laien und Kindern sowie für die europäischen Kulturen vor der Renaissance. Dubuffet war auf der Suche nach zivilisatorisch noch unverdorbenen Ausdrucksformen, die er höchst artifiziell in seinen eigenen Bildwelten zitierte.
Schon in den zwanziger Jahren, mehrfach jedoch von 1947 bis 1949 reiste Dubuffet nach Algerien. Vor Ort, aber auch in seinem Pariser Atelier, schuf er eine Gruppe von Werken, die sich mit dem Orient auseinandersetzen. Die Hamburger Kunsthalle besitzt eines der Hauptwerke aus diesem Werkkomplex: Il a oté les naïls (»Er hat die Sandalen ausgezogen«) von 1947.
Die Ausstellung versammelt Ölbilder, neben dem Hamburger Bild unter anderem das wichtige Werk Arabe au traces de pas aus der Kunsthalle Karlsruhe, sowie etwa zehn Papierarbeiten aus den Jahren 1947 bis 1949, die sich mit dem Algerienthema befassen. Dubuffet reduziert seine Motive zeichnerisch jeweils auf ein Minimum, dennoch bleiben sie genau benennbar.
Analytisch setzt sich die Ausstellung mit der Herkunft der Motive auseinander, die für Dubuffet den »Orient« konstituieren. In der akademischen Malerei des 19. Jahrhunderts gibt es eine eigene Tradition des Orientalismus, die anhand von einigen ausgewählten Ölbildern und einzelnen Studien aufgezeigt wird. Künstler aus Europa reisten im Auftrag oder zumindest im Schutz der jeweiligen Kolonialmächte (vor allem England und Frankreich) nach Nordafrika und hielten die fremde Welt in Szenen von photorealistischer Genauigkeit fest.
Während Dubuffet mit grobem Malmaterial, spröden Erdfarben und einer an der Kinderzeichnung geschulten Kürzelhaftigkeit arbeitet, sind die Bilder des 19. Jahrhunderts von einem illusionistischen Tiefenraum und einer minutiösen Detailverliebtheit bestimmt. Umgekehrt stellt der Hyperrealismus der Maler des 19. Jahrhunderts häufig einen phantastischen Phantasie-Orient vor, während Dubuffet durch die Wiedergabe ethnographisch präzise benennbarer Objekte und Praktiken verblüfft.
Einen eigenen Schwerpunkt legt die Ausstellung auf Dubuffets Auseinandersetzung mit der arabischen Musik. Zusammen mit Asgar Jorn veröffentlichte er Schallplatten mit musikalischen Experimenten, in denen er arabische Flöten einsetzte. Genauso wie Dubuffet versuchte, die Konventionen illusionistischer Repräsentation in der Malerei in Frage zu stellen, strebte er danach, die europäischen Harmoniegesetze der Musik außer Kraft zu setzen. Ein Ansatz, der in Zusammenhang mit seinen konkret-lautmalerischen Textexperimenten seine gesamtkünstlerische Vision offenbart.
Dubuffet führt in Il a oté les naïls – ganz entgegen seines künstlerischen Programms – die Tradition des klassischen Orientalismus fort. Er eignet sich dieses Motivspektrum aber mit seinen ureigensten künstlerischen Mitteln an. Das Resultat ist ein einzigartiges Werk, das durch geschickte Reduktion der Zeichen und kalkulierte Kargheit seine Faszination entwickelt.
Zur Ausstellung erschien eine Publikation, ermöglicht von der STRABAG AG, für 8 €.